Kreatives Schreiben


Leseprobe "Im Kielwasser der Zeit" - Weiße Servietten

Kross an meinen Lippen, an meinen Zähnen, die jetzt durch die knusprige Haut zu dem saftigen Fleisch vordringen, abbeißen und den Geschmack auf der Zunge aufnehmen, ihm im ganzen Gaumen Raum geben. Es ist das Echo aus Kinderzeit, aus sinnlicher Hingabe an beglücktes Genießen, jedes Mal wieder dieses Echo, wenn ich in eine Hähnchenkeule beiße. Und mit dem Echo tauchen Bilder auf: Mein Vater, wie er, den Kopf leicht schräg geneigt, in eine Hähnchenkeule beißt, er, der sonst mit seinen vollkommenen und ihm selbstverständlichen Tischmanieren uns ein Vorbild sein will und auch ist. Ihm läuft das Fett übers Kinn, gleich wird er es fortwischen mit der großen weißen Serviette, aber noch nicht. Ich sehe ihn die Augen einen Moment lang schließen. Tut er es, um sich dem Genuss noch intensiver hingeben zu können? Er legt die Keule zurück auf den Teller, wahrscheinlich wird er gleich zu Messer und Gabel greifen, um vorbildlich zu Werke zu gehen. Aber diesen ersten Happen hat er sich gegönnt. Und ich sehe ihn kauen und nach innen lauschen und  nein, geschmatzt hat mein Vater nie, aber er würde es in diesem Augenblick tun, wenn man es ihm je erlaubt hätte.

Wir sitzen um den großen Speisetisch, mein Vater, meine Mutter, meine Schwester und ich, vielleicht auch mein Großvater. Es ist ein solide aus Eichenholz geschreinerter Tisch, aus der Werkstatt meines Urgroßvaters, der auch die kunstvollen Aufbauten der Stuhllehnen ersonnen hat, die Weintrauben und Ranken, in denen meine Kinderfinger sich so gerne tastend bewegten, wenn das Gebet vor dem Essen gesprochen wurde. Wir sitzen um diesen Tisch, fest gegründet auf vier Generationen, die in diesem Land Fuß gefasst haben, ihr Handwerk ausgeübt, es zu selbstständigen Kaufleuten gebracht haben. Wir genießen gebackene Hähnchenkeulen, die die Köchin aufgetragen hat, und wischen uns den Mund mit weißen Servietten, ehe wir den nächsten Bissen nehmen, im satten Bewusstsein, dass dies rechtens ist und also unverbrüchlich.

Das nächste Mal, dass ich meinen Vater Hähnchen essen sehe, ist am kleinen Tisch vor dem abgeschabten Plüschsofa in unserem Flüchtlingszimmer nach dem Krieg. Meine Schwester hat das kostbare Gut aus der Küche des US-amerikanischen Hospitals geschmuggelt, wo sie Küchenhilfe ist. Meine Mutter hat die Hähnchenreste auf der Kochplatte erhitzt, sie schwimmen in tomatenfarbenem Fett und mein Vater ist nicht versucht, sie in die Hand zu nehmen, um abzubeißen und dann die Augen zu schließen.

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„Im Kielwasser der Zeit“, Derk Janßen Verlag, Freiburg, 2022