Badische Zeitung, 25. November 2022
Eine Angel, ausgeworfen durch Zeit und Raum
Maria Bosse-Sporleders Erzählungen beim „Freiburger Andruck“
„Hungrig nach Spuren ihrer Familie“ begibt
sich die 1932 geborene Freiburger
Autorin Maria Bosse-Sporleder in ihrem
zweiten Erzählband „Im Kielwasser der
Zeit“ erneut auf Erinnerungssuche in ihre
estnische Heimat nach Tallinn (früher:
Reval). „Sie will eine Angel auswerfen
durch Raumund Zeit“, heißt es darin, und
man taucht zunächst ein in dieWelt einer
weitgehend unbeschwerten Kindheit in
der deutschbaltischen Community. Eine
Welt geheimnisvoller Hafenkontore und
den Häusern der Schwarzenhäupter, wie
sich die Vereinigungen deutscher Kaufleute
im Baltikum nannten. Eine Welt, die
heute nur noch in Baudenkmälern existiert,
wie die Erzählerin auf späteren Reisen
erlebt. Und so wie auf der Altstadtstraße
Harju tänav die nach dem Krieg
überdeckten Zeugnisse der sowjetischen
Bombardements wieder freigelegt werden,
wird auch ihr eigenes Projekt zu
einem Sichtbarmachen der Geschichte.
Die Kindheitserinnerungen vom Pilzesammeln,
von Kinderzimmeralpträumen
oder Zusammenkünften sind knapp, detailreich
und anschaulich, doch nicht immer
lässt sich alles wieder hervorrufen
wie erhofft: Wo sie sich an den Großvater
erinnern möchte, drängt das Parkettmuster
dazwischen. Das Gedächtnis, es ist ein
unsteter Begleiter. Immer wieder wechselt
Bosse-Sporleder in die dritte Person,
als sehe sie sich selbst bei der Erinnerungsarbeit
zu – sie gewinnt so Distanz
und verdeutlicht, dass auch autobiographische
Rekonstruktionen im Grunde erzählerische
Verfahren sind. Zuweilen
macht sie das konsequent und füllt Lücken
der Familienchronik über die Großeltern mit
eigener Erfindung.
Maria Bosse-Sporleder ist schon lange
im Steinbruch der Literatur tätig: als
Übersetzerin der Werke von Virginia
Woolf im S. Fischer Verlag, als Essayistin,
als Verfasserin einer Lyrik-Kolumne in der
BZ und als Leiterin hunderter von
Schreibwerkstätten – doch erst mit 80
Jahren veröffentlichte sie ihr erstes eigenes
Buch „Im fünften Koffer ist das
Meer“. Auch darin erkunden Miniaturen
und kurze Erzählungen ihre Kindheit in
Estland, Fluchterfahrungen und das Leben
in Kanada. Vor allem aber
wird das Schreiben über Kindheit
und Familie zu einer Beschwörung
nicht nur des Vergangenen,
sondern des Verlorenen, wie sie
in einem schönen Bild evoziert:
„Das Wort ,Schnalle’ taucht auf,
und plötzlich ziehe ich aus den
Tiefen meines Bewusstseins eines
nach dem anderen – als wären es
tibetanische Gebetsfähnchen –
die Kleider meiner Mutter hervor.
Und hänge sie auf die Leine meines
Schreibens, jetzt.“
Manchmal sind die neuen Texte
universal bis zum Gewöhnlichen,
dann wieder nur an einem
besonderen Ort zu einer besonderen
Zeit denkbar. Wie der siebte
Geburtstag, mit dem eigentlich
die Schule beginnen sollte, der
1939 aber Auftakt wird zur „Umsiedlung“
ins deutsch besetzte
Polen – wo eine Wohnung für sie
zwangsgeräumt wird – womit ein
Wanderleben beginnt, das sie
nach der Universität in Edmonton nach
Finnland und Deutschland führen soll.
Direkt nach der Unabhängigkeit Estlands
1991 und später als Reiseleiterin erlebt
sie die bittere Armut der „Zwiebelrussen“,
die auf dem Markt die eigenen
Hemden und Schuhe verkaufen, sie erleidet
Alltagskriminalität und spürt Mitmenschlichkeit.
Und im zweiten Teil drehen
sich die Texte, mal als Erzählungen
durchgestaltet, mal kleine Schlaglichter,
um Männer und Lieben eines Lebens, um
gestörte Ehen, aber in befreit-melancholischemTon
auch um Paare, die „sowie sie
zusammengeschwemmt worden waren,
wieder auseinandergleiten. Ohne ein Danach“.
Dernieres Nouvelles d’Alsace
Maria Bosse-Sporleders Erinnerungsbilder
Im Buch "Im fünften Koffer ist das Meer" werden Lebensaugenblicke festgehalten.
Der im Januar 2013 erschienene Band ist das erste Buch mit eigenen Texten, das die gerade achtzig Jahre gewordene, seit Jahren in Freiburg im Breisgau ansässige, deutsch- und englischsprachige Autorin veröffentlicht. Maria Bosse Sporleders Erinnerungsbilder bewegen sich zwischen Vergangenheit und Gegenwart und halten Lebensaugenblicke fest. Zwischen Estland, Posen, Deutschland, Kanada; den Vereinigten Staaten und Frankreich. All diese Erinnerungssplitter werden von der "Femme de lettres" ohne Wehleidigkeit hervorgeholt, betrachtet, auf ihre Wirklichkeit geprüft, in ihren Lebenslauf eingeordnet und ohne Reue oder Bedauern beiseite gelegt. Es sind Momentaufnahmen. Zwischen "Dichtung und Wahrheit". Autobiographische Elemente verschmelzen mit Fiktion. Erlebtes und Erträumtes findet so manchmal eine imaginäre Erfüllung. Die Sprache Maria Bosse Sporleders zieht in ihrer klaren Knappheit, in ihrer spröden und zugleich leidenschaftlichen Verhaltenheit den Leser in ihren Bann. Es ist die fast immer durchgehaltene Distanz, es sind die bewussten Auslassungen, diese elliptische Schreibweise, die überzeugt und besticht.
Neue Westfälische, 16. Februar 2013
Es sind erstaunlich interessante,
oftmals sehr bewegende
Geschichten, die entstehen,
wird das „wahre“ Leben
selbst zum Erzähler. Zumal
wenn es so reich an Eindrücken,
Begegnungen, Schauplätzen
war und ist wie das der
1932 in Estland zur Welt gekommenen
Autorin Maria
Bosse-Sporleder.
In ihrem ersten
Erzählband „Im fünften
Koffer ist das Meer“ berichtet
sie von den kleinen und großen
Dingen ihres Lebens, das
sie von Tallinn nach Posen, ins
kanadische Edmonton,Frankreich,
Finnland, die Vereinigten
Staaten und schließlich
nach Freiburg führte. Mit sicherem
Gespür fürden überindividuellen
und damit literarischen
Gehalt bestimmter Erinnerungen,
wirft sie Schlaglichter
auf Erlebtes oder Erträumtes,
das ihr in der Rückschaueinen
Schlüssel zur eigenen Biografie
liefert. Man reist beim
Lesen durch Zeit und Welt.
Mitgenommen von Texten,
die durch die Genauigkeit ihrer
Beobachtungen und eine
bemerkenswerte Sprachbeherrschung
mindestens so beeindrucken
wie durch die Fähigkeit
der Autorin zu Glück und Unglück und ihre alles durchdringende weibliche Intellektualität.
Schwäbische Post, 22. Februar 2013
Lange hat sie sich Zeit gelassen für ihr erstes Buch „Im fünften Koffer ist das Meer“ – Maria Bosse-Sporleder, Zeit gelassen mit der Niederschrift ihrer Erinnerungen an ein bewegtes Leben zwischen Reval (Tallinn) in Estland, wo sie 1932 geboren wurde und dem sonnigen badischen Freiburg, wo die Literaturwissenschaftlerin (Romanistik und Germanistik) und Virginia Woolf-Übersetzerin seit über 40 Jahren lebt. [...]
-> Gesamter Text und PDF-Download des Artikels
Badische Zeitung, 9. Januar 2013
Sie ist viel herumgekommen, hat viel erlebt: 1932 in Estland zur Welt gekommen, brachten Umsiedlung, Flucht und Emigration Maria Bosse-Sporleder nach Tallinn, Posen, Bad Kissingen und ins kanadische Edmonton. Später lebte sie auch in Frankreich, Finnland und den Vereinigten Staaten. Sie hat sich viel – auch beruflich – mit Sprache beschäftigt und jetzt, in Freiburg lebend, ihr erstes Buch veröffentlicht: Den Erzählband "Im fünften Koffer ist das Meer". Nach dem poetischen Titel fällt der Blick des Lesers zunächst auf ein Zitat Elias Canettis, das Bosse-Sporleder ihren Texten voranstellt: "Wirklich wird erst das Erkannte, das man zuvor erlebt hat. Ohne dass man es nennen könnte, ruht es erst in einem, dann steht es plötzlich da als Bild, und was anderen geschieht, erschafft sich in einem selbst als Erinnerung: jetzt ist es wirklich."
-> Gesamter Text auf der Website der Badischen Zeitung