Kreatives Schreiben


Leseprobe "Im fünften Koffer ist das Meer"

Sie muss los, auf den Markt. Samstag morgen. Der Schlüssel im Rucksack, der Geldbeutel auch, alles dabei. Dann noch der Einkaufskorb. Die Sonne, die Straße noch morgenfrisch, es geht sich gut. Sie biegt um die Straßenecke − und sieht den Mann. Groß, leicht gebeugt, graublonde strähnige Haare. Ruhig steht er da, beide Hände auf den Fahrradgriffen. Sein Fahrrad bepackt mit Plastiktüten, am Lenker baumelnd, auf dem Gepäckträger festgeklemmt, dicke Tüten, und auch die, so sieht es aus, voll gestopft mit Plastiktüten, proppenvoll. Sie zögert kurz, will an ihm vorbei, kein Ausweichen, ein parkendes Auto blockiert den Schritt zur Seite.
Er versucht ungeschickt, sein Fahrrad aus dem Weg zu lenken, streift das Auto, hält inne, schaut sie an und fragt zögernd:
„Hast du mir ’ne Tüte?“
Die Stimme klingt erstaunlich ruhig.
„ ’ne Tüte? Haben Sie denn nicht genug?“
„Nee.“
Sie schaut in ihren Einkaufskorb. Richtig, da ist die Reservetüte, falls der Einkauf mal größer wird. Oder für die Eier. Aber Eier braucht sie heute nicht. Sie betrachtet ihre Tüte. Sie hat ein Faible für besondere Tüten. Auf dieser steht Jos Schmitz Buchhandlung, darunter ein Dichterkopf. Wolfgang Koeppen.
Der Mann streckt die Hand aus.
„Warten Sie ,“ sagt sie, „ich muss erst lesen, was hier drauf steht. Das ist von Koeppen, wissen Sie, mein Lieblingsautor.“
Sie liest laut: Die Straße führte weiter. Zwischen den Ruinen hatten sie so viel Schutt weggeschaufelt, dass man diese Straße jetzt weitergehen konnte. Schmitt ging weiter. Er war nun sicher, dass er zu Hause ankommen würde. Sie hält die Tüte nachdenklich in der Hand.
„Stark, nicht wahr?“
Der Mann hat den Fahrradständer ausgeklappt und den Lenker losgelassen.
„Ja, so Tüten habe ich auch schon welche, mit was drauf geschrieben. Aber gelesen habe ich das Zeug nie. Willste mal? “
Er beginnt, in einer der prallen Tüten im Fahrradkorb zu kramen.
„Da hat mir doch neulich eine Frau…da - hab’ sie schon. Wusste doch, dass sie gelb war. Liest du mal?“
„Obi, der Heimwerkermarkt für alle mit zwei linken Händen.“
„Na ja,“ sagt der Mann. „Und wer hat das geschrieben?“
„Das weiß ich nicht, irgendein Werbetyp.“
„Nicht der von vorhin, wo du sagtest, mein Liebling?“
„Nein, nicht Koeppen. Der ist doch ein Schriftsteller.“
„Und der ist dein Freund?“
„Wieso mein Freund?“
„Wenn du doch ‚Liebling’ sagst.“
„Nein, den lese ich doch nur gerne. Außerdem ist er schon tot.“
„Beileid“ murmelt der Mann. Und dann, nach einer kleinen Pause: „Hast du sonst niemand?“
„Doch, schon, aber die schreiben nicht auf Plastiktüten.“
„Kannst du mir was schreiben? Ich meine, auf ’ne Tüte, wo noch nix drauf ist. Da war doch so ’ne ganz weiße…“
Sie schaut auf die Uhr, ab 12 Uhr wird der Markt abgeräumt. Es könnte knapp werden...
Der Mann hat seine weiße Tüte gefunden und hält sie ihr einladend entgegen. Sie sieht in sein zerfurchtes Gesicht, sieht, wie die Haarbüschel aus den Ohren wachsen und der Hemdkragen an den Spitzen abgestoßen ist. Die meergrünblauen Augen des Mannes schauen sie an wie von fern.
Sie nimmt sich Zeit beim Suchen nach einem Stift im Rucksack, findet den schwarzen Marker. „Wie heißen Sie?“
„Helmut“.
Sie schreibt. Dann gibt sie ihm die Tüte.
Der Mann schaut unverwandt auf die Buchstaben, zögert, schaut sie an und fragt schließlich:„Liest du es mir vor?“
Sie liest: Für Helmut. Auf der Straße. Komm gut an.
Sie packt den Stift weg.
Er faltet die Tüte, besinnt sich und steckt sie in seine Jackentasche.
„Ich muss los,“ sagt er.

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"Im fünften Koffer ist das Meer", autobiografisch fiktionale Geschichten erscheint im Libelle Verlag, Konstanz, 22 November 2012, 18,80€